Interview mit Claude AnShin Thomas 2002 aus dem Magazin „Ursache & Wirkung“:

Das Wichtigste ist aufzuwachen
. Claude AnShin Thomas plädiert an Eltern, die Natur ihres eigenen Leides zu erkennen.

Der amerikanische Zen-buddhistische Mönch und Friedensaktivist Claude AnShin Thomas ist in Europa und den USA bekannt für seine Straßenretreats, bei denen die Teilnehmer sich in die Situation von Obdachlosen versetzen. Außerdem leitet er zahlreiche Kurse und Friedensmärsche zur Erinnerung an den Holocaust. Seine Hauptaussage ist, dass alle Menschen gleichzeitig Opfer und Täter sind. Und dass Gewalt niemals eine Lösung ist. ‚Ursache&Wirkung‘ hat ihn zum Thema Kindererziehung befragt und erstaunliche Antworten erhalten.

U&W: Wie können sich Probleme im Elternhaus (durch Gewalt, Alkohol, Drogen) auf die Kinder und später auf deren Erwachsenenleben auswirken?

Jede Art von Gewalt hat ernsthafte Konsequenzen für Kinder. Gewalt kann physischer Natur sein, z.B. wenn das Kind geschlagen wird. Oder psychischer Natur – z.B. indem das Kind für die Probleme des Erwachsenen verantwortlich gemacht wird. Gewalt kann auch emotionaler Natur sein, wenn dem Kind zu wenig – oder zuviel – Aufmerksamkeit zuteil wird. Den Mittelweg zu finden ist schwer. Der einzige Weg, die Balance zu behalten, ist aufzuwachen. Wenn wir uns als Eltern nicht mit der Art und Herkunft unseres Leidens auseinandersetzen, wenn wir die Erfahrungen und Probleme unserer Kindheit nicht verarbeiten, dann können wir unsere Kinder auch nicht dementsprechend erziehen. Selbstverständlich sind dann die Kinder davon betroffen. Darum ist es so unglaublich wichtig, zu praktizieren. Viele Menschen denken, zu praktizieren bedeutet meditieren zu gehen, die Kirche zu besuchen, Mantren zu singen oder zu beten. Doch was auch immer getan wird, es ist eine von vielen Formen des Praktizierens. Es ist etwas, das uns unterstützt, um die tatsächliche Größe des Praktizierens zu erkennen. Ich denke, dass zu allererst die Bereitschaft zum Erkennen da sein muss. Die Bereitschaft, das Leiden als Bestandteil des Lebens zu akzeptieren. Wir sollten nicht fragen, ob wir leiden oder nicht. Die Frage ist „wie“ wir leiden, „wodurch“ und „wovon“ wir in unserer Kindheit beeinflusst wurden – nicht „wurden wir überhaupt oder wurden wir nicht“. Daher müssen wir uns die Frage stellen, welcher Natur unser Leiden ist. Was habe ich durch meine Eltern, und durch die Generationen davor erlebt? Wie kann ich anders leben, um nicht meine Kinder ebenso zu beeinflussen?

U&W: Was brauchen Kinder aus zerrütteten Verhältnissen? Wie können sie aus einer Spirale von „unsozialen Verhältnissen“ aussteigen? Was haben sie für Chancen?

Das ist eine schwierige Frage. Ich kann nur über die Erfahrungen in meiner Kindheit sprechen. Mein Vater war Alkoholiker und meine Mutter war sehr gewalttätig. Als Kind wurde ich 20-30 Stufen hinunter geworfen. Einmal verlor ich fast ein Auge, weil ich gegen eine Tür geschleudert wurde. Ich wurde geprügelt und gewürgt, mit dem Gürtel geschlagen, bis ich vom Rücken bis zu meinen Fußknöcheln blutete. Meine Großmutter war Alkoholikerin, ihr Mann – nicht mein Großvater – ebenfalls. Die beiden hatten oftmals Streit. Ihr Mann sperrte sich im Badezimmer ein und sie holte mich dann zu sich ins Bett. Nicht immer, aber ich kann mich daran erinnern. Ich musste sie befriedigen und sie berührte mich. Ich war sehr jung damals, so 6, 7, 8 Jahre. Und ich hatte keine Erinnerung daran, bis ich fast 40 Jahre alt war. Die Erinnerungen kamen, als ich mich entschloss, anders zu leben. Das wiederum tat ich, als ich fähig war zu erkennen, dass ich an einem „toten Platz“ aufgewachsen bin. Nichts schien friedlich abzulaufen. Ich hatte zwar eine Vorstellung, dass das Leben wohl harmonisch und angenehm verlaufen könnte, aber ich wusste nicht wie. Darum war mein erster Schritt, eine Psychotherapie zu besuchen. Doch nicht, weil ich dachte, dass ich Probleme hätte, sondern weil die Menschen in meinem Umfeld sagten, dass ich Probleme haben würde. Zu Beginn der Psychotherapie dachte ich, dass ich wahnsinnig werden würde. Denn das Aufwachen, das Erkennen des Leides war ein unsagbar beeindruckender und kraftvoller Prozess. Ich hatte Unterstützung und konnte realisieren, dass dieses chaotische Durcheinander mein Leben ist. Es ist zwar nicht nur mein Leben – denn mit mir existieren auch die vergangenen Generationen, aber es sah so aus, als ob es ganz allein mein Leben wäre. Während dieses Prozesses erkannte ich auch grundlegend, dass es notwendig und heilsam ist, keine Drogen zu nehmen. Nachdem ich nicht fähig war, es alleine zu schaffen, ging ich in eine Klink. Ich hörte auf, Drogen zu nehmen und Alkohol zu trinken. Das gab mir die Möglichkeit, das Leben direkt zu erfahren, und ich lernte zu leben. So kamen auch die Erinnerungen zurück, wie ich ein kleines Kind war und meine Großmutter mich sexuell missbrauchte. Die Erinnerungen kamen einfach so, zum Beispiel als ich gerade las. Ich war geschockt und konnte es kaum glauben. Doch ich hatte fachliche Unterstützung und man versicherte mir, dass das durchaus möglich ist. Das Erkennen ist verwirrend und schmerzhaft, aber die Belohnung dafür ist unermesslich. Denn heute habe ich ein Leben, und ich habe die Wahl. Wenn wir Eltern werden, dann müssen wir wissen, dass unser Handeln unsere Kinder erzieht. Unsere Kinder werden, wie wir sind. Wenn wir rauchen, rauchen sie auch. Wenn wir Alkohol trinken, dann trinken sie auch, weil wir ihnen zeigen, dass es in Ordnung ist. Darum ist es so wichtig, dass wir erkennen: Wir können der Gewalt ein Ende setzen, wenn wir möchten.