Die Dinge anders tun…
Vortrag von Claude AnShin Thomas vom 18.04.1999 in Idylwild, California
Siddhartha Gautama, der vor 2.500 Jahren Shakyamuni Buddha wurde, war ursprünglich ein indischer Prinz. Sein Vater versuchte, Krankheit, Alter und Tod vor ihm zu verstecken, indem er ihn den größten Teil seines Lebens hinter den Mauern des Palastes festhielt.
Doch schließlich wurde er neugierig, denn irgendwann mußte sein Vater ja vor seinen Augen alt geworden sein, ohne es selbst zu merken, und so fing er an, seinen Diener auszufragen. Er überredete den Diener, sich den Befehlen seines Vaters zu widersetzen und ihn nach draußen mitzunehmen. Sie kamen an einer Beerdigungsprozession vorbei, sahen den in Tüchern gehüllten Leichnam und hörten die Trauergesänge. Er fragte seinen Diener: „Was ist das?“ Der Diener antwortete: „Das ist der Tod.“ Siddhartha wußte nichts vom Tod. Das kann man sich schwer vorstellen, da er vielerlei Fertigkeiten erlangt hatte, ein geschickter Bogenschütze war und mit seinem Vater auf die Jagd gegangen war. Und doch, obwohl er den Tod gesehen hatte, wußte er nichts von ihm, denn er lebte beschützt vor der Wirklichkeit – er lebte in einer abgetrennten Welt.
Ein anderes Mal stahl er sich aus dem Schloß und begegnete einem Menschen mit verdrehten Gliedern, der sehr mager und ausgezehrt war. Er fragte seinen Diener: „Was ist das?“ „Das ist ein Kranker,“ lautete die Antwort. Er war schier überwältigt von diesen Bildern von Krankheit, Alter und Tod und so bewegt von diesen Erfahrungen, daß er für lange Zeit in Depressionen versank – so nenne ich das. Es wird als Zustand von Verzweiflung und Trauer beschrieben. Und er war so ergriffen von Verzweiflung und Trauer, daß er seinem Diener sagte: „Ich muß fortgehen, ich muß gehen und ein Heilmittel für Krankheit, Alter und Tod finden. Ich muß einen Ausweg finden.“
Zuerst wollte ihm sein Diener nicht helfen, aber Siddhartha erklärte, daß er auch ohne seine Hilfe gehen würde. Also sattelte sein Diener sein Pferd und umwickelte dessen Hufe mit Tüchern, damit sie keinen Lärm machten, und er begleitete ihn bis zum Stadtrand. Dort stieg Siddhartha vom Pferd, legte alle seine Kleider und Juwelen ab und begab sich in die Wildnis. Er sammelte verschiedene Stoffetzen, von Stoff, der zum Verbinden von Wunden benutzt wurde, zum Einhüllen von Leichen oder von Frauen für die Menstruation. Er wusch die Fetzen und vergrub sie für eine Zeitlang in der Erde. Danach fertigte er seine erste Robe daraus an. Dieses Tuch wird „pom-suhva“ genannt. Tatsächlich sind auch alle Kleider, die ich trage, weggeworfen oder mir geschenkt worden – ich trage nichts gekauftes.
Ich hatte gerade eine Unterhaltung mit dem Sohn von jemandem, der in Verbindung mit dem Zen Mountain Center steht. Er ist in der Navy in San Diego stationiert, und wir haben über den Krieg im Kosovo gesprochen. Es war sehr interessant, sich auf einer pragmatischen Ebene darüber zu unterhalten, daß es keine militärische Lösung für die Lage gibt. Das haben wir ja schon bei unserem Eingreifen in Vietnam und anderswo erfahren. All diese NATO-Kräfte, die versuchen, sich eine Lösung, den Frieden, zu „erbomben“. Es ist unmöglich, es geht nicht, es funktioniert nicht. Wann lernen wir endlich? Und was ist nötig um zu lernen? Wieviel hunderttausende von Menschen müssen sterben, bis wir bereit sind, die Schritte zu unternehmen, die der junge Siddhartha getan hat, wirklich ins Unbekannte einzutreten, Zeugnis abzulegen über das Leiden in der Welt, das sich durch unsere Person manifestiert, und uns dann auf eine spirituelle Praxis einzulassen, die die Transformation, die Heilung des Leidens möglich macht? Wann sind wir bereit, das zu tun?
Heilung kommt nicht von außen. Ich kann hier sitzen und rezitieren bis ich grün werde, mir wurde nämlich vor ein paar Minuten gesagt, daß ich ein bißchen grün aussähe (Gelächter). Ich könnte rezitieren, bis ich eine andere Farbe annähme, und nichts würde sich wiklich ändern. Das Rezitieren bringt die Dinge nicht in Ordnung. Wie gut ich mich niederwerfe, das bringt es auch nicht. Es ist meine innere Verpflichtung, mein Leben anders leben zu wollen. Es ist meine innere Verpflichtung, wirklich zu mir selbst aufzuwachen und in der Realität meiner eigenen Haut zu leben, mit allem zu leben, was ich bin, es nicht auf bestimmte Weise zu verändern oder umzuformen, sondern es dort abzuholen, wo es ist, ihm genau hier zu begegnen. Dazu ermächtigt mich die buddhistische Praxis!
Als 17-jähriger Junge ging ich nach Vietnam – ich betrachte mich mit 17 noch als Jungen. Jetzt bin ich mit vielen jungen Menschen in Kontakt, die als „gefährdet“ bezeichnet werden. Ich arbeite mit Jugendbanden, die ein Leben in Gewalt führen, und ich schaue sie mir an: 15, 16, 17 Jahre alt. Sie sind „hart“, und ich verstehe diese Härte, und ich verstehe, daß sie versuchen, irgendwie mit diesem Gefühl des „Verlorenseins“, der Machtlosigkeit klar zu kommen, und eine Waffe gibt ihnen Stärke, gibt ihnen die Illusion von Macht. Aber sie sind ängstliche Jungen, kleine Jungen. Ich schau‘ sie mir an, mit ihren 17 Jahren, und ich muß weinen. Ich kann mich selbst nicht ‚mal sehen mit 17, ich ging in den Krieg mit 17, und landete als Mannschaftsführer von Maschinengewehrschützen im Hubschrauber und meine Verantwortung war Zerstörung.
Als ich 17 war, wurde ich ermächtigt zu entscheiden, ob Menschen leben oder sterben sollten, und ich war nur allzu bereit dazu. Und jetzt sitze ich hier und erzähle Euch, daß ich aus ideologischen Gründen nach Vietnam ging, mit all‘ diesen wunderbaren Absichten. – Innerhalb einer Woche erkannte ich, daß es darum nicht ging. All‘ das nationalistische Gerede, mit dem ich aufgewachsen war und das mich beeinflußt hat. Nichts davon hatte mit dem zu tun, was zu der Zeit wirklich in dem Land vor sich ging. Es ging nicht um Demokratie und Freiheit, es ging um Zerstörung und Töten und ums Überleben. Ich war verantwortlich für die Zerstörung ganzer Dörfer, für den Tod aller Arten von fühlenden Wesen: Männern, Frauen, Kindern, Tieren, Vegetation. Ich hatte absolut keinen Kontakt zu dem, was ich wirklich tat, weil ich so konditioniert worden war, daß ich das Leben nicht auf wechselseitig verbundene Weise sehen konnte, sondern es als getrennt ansah. Ich hatte tatsächlich den Kontakt zu mir selbst verloren, denn sobald wir Kontakt zu uns selbst haben, ist es unmöglich, die Verbundenheit aller Dinge nicht zu sehen- es ist einfach nicht möglich.
Mit der Tatsache zu leben, daß ich für die Handlungen verantwortlich bin, ist tiefgreifend. Die Art von Heilung, die ich suchte, war die Auslöschung. Ich dachte, wenn es einmal vorbei ist, wenn ich überlebe, und so wurde es mir gesagt, dann ist es vorbei, und das Leben kann weitergehen, und du kannst dankbar sein. Aber ich war nicht dankbar, ich war zornig, verwirrt, isoliert, und ich wollte, daß die Menschen verstehen, was los war. Sie sollten wissen, wie ich mich fühlte mit dem, was ich getan hatte, und wie sie mir helfen konnten.
Aber ich sage Euch ‚was, wenn ich Alkohol trinke, dann bin ich verantwortlich für jeden, der jemals in einem durch Alkohol verursachten Unfall stirbt. Ich bin verantwortlich, denn ich unterstütze diese Einrichtungen durch meine Handlungen. So verstehe ich es. Und auch, wenn ich eine Waffe trage, und ich trug bis vor 15 Jahren ständig eine Waffe, weil ich Angst hatte, in der Welt zu sein, ich fühlte mich nicht sicher. 1989 war ich Lehrer für Kampfsportarten in der Zen-Tradition an 5 Schulen mit 500 Schülern. Irgendwann hatte ich ein Erwachen. Ich hörte, wie sich zwei Schüler unterschiedlicher Disziplinen unterhielten, und der eine sagte: „Mein Stil ist besser als deiner, weil ich dir in den Hintern treten kann…“ Und da sagte ich mir: „Hey, was mach‘ ich hier? Das kann’s nicht sein.“ Und genau da hielt ich inne, tat den Schritt ins Unbekannte, ganz instinktiv. Ich habe mich da ‚rausgezogen.
Aber ich sitze hier nicht vor Euch, um Euch zu sagen, welcher Weg richtig ist und welcher nicht. Ihr müßt euren eigenen Weg finden. Was ich mit Euch teile, ist, was für mich funktioniert hat, was ich auf diesem buddhistischen Pfad entdeckt habe. Und ich habe nicht so sehr entdeckt, was funktioniert, sondern was nicht funktioniert. Und als ich mich erst einmal herausgezogen hatte, blieb ich mit mir selbst zurück, von Angesicht zu Angesicht mit AnShin. Dann mußte ich anfangen, die Arbeit zu leisten, zu heilen, was mit dem Krieg zu tun hatte. Ich hatte verschiedene Wege ausprobiert: Drogen, Alkohol, materiellen Erfolg. Nichts hatte wirklich funktioniert. Bis ich mich einfach hinsetzte und sagte: „Ehrlich, ich hab‘ keine Ahnung, was ich anfangen soll – da war ich tatsächlich aufmerksam – ich hab‘ nur das hier, was immer es ist.“ Zu dem Zeitpunkt befand ich mich ausgerechnet in einem buddhistischen Kloster … Ich erinnere mich an die Einladung zu meinem ersten buddhistischen Retreat, und ich dachte: „Buddhistisches Retreat? Bist du nicht ganz bei Trost? Was kann da schon für dich herauskommen? Wie kann irgend so ein Mönch wohl wissen, was du durchgemacht hast? Wie können die dir schon helfen?“ Und tatsächlich weiß dieser Mönch nichts darüber, wie mein Leben aussah oder was ich durchgemacht habe – aber es geht nicht um den Mönch. Es geht darum, daß der Mönch die Tür zu Buddhas Lehre ist, und daß durch diese Lehre Befreiung möglich wird.
Übersetzung: Gisela Tan