Balkan
Claude AnShin Thomas
Ich war vor kurzem für einen Monat in Bosnien-Herzegowina. Während der Zeit war ich auch in Mostar, einer Stadt neunzig Kilometern südlich von Sarajevo. In den Nachrichten sehen wir vor allem, was in Sarajevo geschieht, weil dort die Journalisten sind. In Sarajevo ist es sicherer. Die Zerstörung ist in Mostar und der umliegenden Gegend viel schwerwiegender als dort.
Als ich mich das letzte Mal in einem Kriegsgebiet befand, war ich ein Soldat in Vietnam. Als ich mich das letzte Mal in einem Kriegsgebiet befand, trug ich eine Waffe. Als ich mich das letzte Mal in einem Kriegsgebiet befand, war ich verantwortlich für den Tod von Hunderten und Hunderten von Menschen.
Bevor ich nach Vietnam ging, hätte ich dir sagen können, worum es in diesem Krieg ging. Aber bereits zwei oder drei Tage nach meiner Ankunft in dem Land hätte ich es dir nicht mehr sagen können. Weil das, woran ich glaubte, bevor ich dorthin ging, keinen Sinn mehr ergab, sobald ich dort war. Und wenn du mich heute fragen würdest, „Warum kämpfen sie in diesen Gebieten des ehemaligen Jugoslawiens?“, könnte ich es dir nicht sagen. Die meisten Menschen könnten es dir nicht sagen. Die meisten Menschen dort möchten in Frieden leben. Die meisten Menschen, mit denen ich gesprochen habe – und ich sprach mit vielen – wollen nicht kämpfen, auch nicht die, die Waffen tragen.
Ich unterscheide nicht gerne zwischen einem ethnischen Gebiet und einem anderen, weil Unterscheidungen willkürlich sind. Diese Grenzen haben sich schon viele Male geändert. Die Menschen hier sagen oft zu mir: „Uns interessiert es nicht, wo diese Grenzen sind. Denn nach einiger Zeit werden sie sich alle sowieso wieder ändern. Wir wollen nur aufhören zu kämpfen.“
Also ging ich in dieses Gebiet. Ich ging nicht dorthin, weil ich meinte, etwas Spezielles geben zu können, sondern weil ich von diesen Menschen lernen wollte, wie ein Ort des Krieges und der Gewalt ein Ort der Gewaltlosigkeit werden könnte. Ein Ort, an dem Konflikte existieren können ohne dass sie mit Waffen, Bomben, Flugzeugen, Fäusten, Messern geregelt werden – oder mit Worten, die noch tiefer schneiden als Messer.
Ich ging an die Frontlinien der Stadt Mostar, wo eine Armee auf Zivilisten auf der einen Seite schoss, während eine weitere Armee auf Zivilisten auf der anderen Seite schoss. Wie man sieht, sind die Ziele keine militärischen Ziele. Aber was ist der Unterschied? Im Krieg gibt es keinen Unterschied. Ich erhielt Gelegenheit in die Bunker zu gehen, in denen die Scharfschützen sind. Ich sprach mit Ihnen darüber, nicht zu kämpfen. Ich ging in ein bewaffnetes Lager, ohne eine Waffe bei mir zu haben, in das Hauptquartier der „Ustasha“, der Faschisten. Und ich sprach mit ihnen darüber nicht zu kämpfen. Sie sagten alle zu mir: „Wie macht man das, nicht zu kämpfen?“ Ich sagte: „Man kämpft einfach nicht. Es ist so einfach: man kämpft einfach nicht.“ Sie sagten: „Das ist nicht möglich.“ Ich sah auf meine Uhr und sagte: „Wir habe jetzt eine halbe Stunde geredet, und eine halbe Stunde habt ihr nicht gekämpft. Es ist wirklich möglich.“
Ich spürte, dass mir ein enormes Geschenk gegeben wurde, an einen Ort wie diesen gehen zu können, ohne Waffe, und darüber zu reden, nicht zu kämpfen. Als ich in Vietnam gekämpft habe, war dort niemand, von dem ich wusste, dass er dies getan hätte. Und ich glaube, dass von den Wurzeln her dieser Krieg, alle Kriege, beendet werden können. Wenn die Menschen, die nicht mehr kämpfen wollen, ihre Stimmen erheben und gewaltlos agieren.
Ich saß mit verwundeten Soldaten in Krankenhäusern. Ich sprach speziell mit einem Soldaten an vier aufeinander folgenden Tagen, viele Stunden jeden Tag. Ich erzählte ihm, dass ich neun Monate in einem Militärhospital verbracht hatte wegen der Verwundungen, die ich in Vietnam erlitten hatte — meine Schulter wurde künstlich wieder aufgebaut. Zu Beginn der Behandlung wurde mir gesagt, dass ich vermutlich meinen Arm an der Schulter verlieren würde. Aber die Armeeärzte und die medizinische Technologie der Armee haben meinen Arm gerettet, indem sie meine Schulter wieder aufbauten. Dieser junge Mann war am Ellbogen angeschossen worden, und ihm war gesagt worden, dass er seinen Arm über der Höhe des Ellbogens verlieren könne. Aber er verlor ihn nicht, weil der Feind seinen Arm gerettet und ihn dann zurück auf diese Seite gesandt hatte, wo die Bedingungen im Krankenhaus besser waren, und so hatte er eine Chance.
Am ersten Tag war alles, worüber er reden konnte, die Bestien auf der anderen Seite. Am zweiten Tag fing er an, über seine eigene Erfahrung des Krieges zu sprechen, wie ich meine Erfahrung meines Krieges geteilt hatte, weil unsere Kriege nicht verschieden waren. An der Wurzel des Krieges gibt es keinen Unterschied. Am dritten Tag ließ er mich wissen, dass seine Freundin andere ethnische Hintergründe hatte als er. Er sagte mir, wie dumm dieser Krieg war. Er fragte mich: „Wie war es für dich, als du aus deinem Krieg nachhause kamst?“ Ich sagte zu ihm: „Als ich nachhause kam, schoben meine Gesellschaft und meine Kultur mich beiseite. Sie wollten vor allem nicht mit mir sprechen.“ Er sagte: „Hier ist es nicht anders, wenn du an der Front bist und kämpfst, bist du ein Held. Aber wenn du verwundet bist, und du kannst nicht mehr kämpfen, will niemand dich kennen.“ Ich fragte ihn, was ich ihm geben könne, und er sagte: „Ich habe alles, was ich brauche, nur niemanden, mit dem ich sprechen kann, der versteht. Du und ich, wir sind Brüder. Du versteht, wie keiner verstehen kann, nicht einmal meine Familie.“
Ich sprach mit einer Schullehrerin darüber, nicht zu kämpfen, und sie sagte, wie die meisten Menschen, mit denen ich redete: „Es ist einfach für dich darüber zu reden, nicht zu kämpfen, aber was weißt du über den Krieg?“ Also erzählte ich ihr, wie ich anderen Menschen, die die selbe Frage stellen, erzählte, von meinen Kriegserfahrungen, und während ich sprach, konnte ich sehen, wie ihr Gesicht sich veränderte und offener wurde. Sie sagte: „Weißt du, wir reden hierüber nicht viel, aber an jedem Tag, auf dem Weg zur oder von der Schule, wird mindestens ein Kind von Scharfschützen getötet.“ Ich sagte: „Dies ist es, worüber zu reden notwendig ist.“
Ich konnte nicht auf die Ostseite gelangen, ohne geschmuggelt zu werden. Einmal wurde mir dort gesagt, ich habe schussfeste Kleidung und einen Armeehelm zu tragen. Ich weigerte mich, einfach, weil die Menschen, die in diesen Gebieten lebten, keine schussfeste Kleidung oder Helme trugen, und ich wollte so wenig wie möglich von ihnen und ihrer Erfahrung getrennt sein. Ich schlief auch in zerbombten Häusern und Gassen, wie die Menschen, die dort lebten. Ich brachte soviel Nahrung mit, wie ich konnte, und so heimlich wie möglich, um niemandes Sensibilität zu verletzen, ich aß nicht, sondern gab alles weg.
Jetzt ist ein Waffenstillstand in der Stadt Mostar. Sie kämpfen wirklich nicht. Und, ich kann mir nicht helfen, ich denke, die Anwesenheit von Menschen wie mir ist eine Ermutigung. Dass wir sie, nur durch unser Hiersein und Zeugnis ablegen, daran erinnern, dass es eine Stimme gibt, um diesen Krieg zu beenden, und dass sie diese Stimme haben.
Auf meinem Weg nachhause hatte ich eine zufällige Begegnung mit Paul Tsongas auf einem Flughafen. Wir waren beide schneebedeckt. Ich erkannte ihn und stelle mich vor. Er fragte mich, was ich getan hatte, und ich erwähnte, dass ich gerade aus diesen Gebieten zurückgekehrt sei. Als ich auf die Idee der gewaltlosen Konfliktlösung zu sprechen kam, fragte er: „Was würdest du einer Mutter sagen, deren drei Kinder soeben von Artilleriesperrfeuer getötet wurden, während sie draußen waren, um Schlitten zu fahren? Was würdest du dieser Frau sagen?“ In jenem Moment hatte ich nichts, was ich ihm sagen konnte. Ich fühlte mich wie damals, als ich in den Teilen Mostars stand, die am meisten zerstört waren. Als, egal von welcher Seite der Kämpfe, jedes Mal, wenn ich die Strasse überquerte, von Menschen auf der anderen Seite auf mich geschossen wurde. Ich dachte: „Was kann ich hier tun? Was kann ich möglicherweise tun?“
Und während ich nachdachte, kam mir eine Idee. Was ich dieser Frau sagen konnte, war einfach nur, dass ich ihren Verlust verstehe, weil ich kleine Jungen gehalten hatte, während sie starben. Ich war bedeckt von ihrem Blut. Ich verstehe die überwältigende Macht des Schmerzes. Und ich würde zu dieser Frau sagen: „Mutter, Teil dieses Schmerzes ist ein machtvoller Zorn.“ Und ich würde sie einladen „Mutter, lass mich dir helfen, mit diesem Gefühl zu sitzen. Denn wenn du es diesem Gefühl erlaubst, dich in seinem Griff hinwegzufegen, und wenn du die Gewalt zurückgibst, wo bist du dann anders? Wenn du den Zorn zurückgibst, wird der Sohn oder die Tochter von jemand anderem sterben, und es wird niemals Frieden sein.“ Ich würde sie einladen: „Mutter, finde dein Mitleid, berühre mit deinem Mitleid diese Menschen, die dich bombardieren. Verstehe ihr Leiden.“ So kam ich dazu, meinen „Feind“ zu verstehen, die Vietnamesen, die nicht länger mein Feind sind. Mein einziger Feind bin ich.
Die Menschen werden von einem speziellen nationalistischen Blickpunkt eingenommen, aber die Wirklichkeit in diesen Gebieten in dieser Zeit ist, dass sie sich auf allen Seiten gegenseitig töten. Sie alle vergewaltigen Frauen, sie alle töten Kinder, sie alle erschießen Priester, sie alle begraben Menschen in Massengräbern, jeder von ihnen. IM KRIEG IST NIEMAND UNSCHULDIG!!
Ich lade uns alle ein, unsere Politik und unseren Nationalismus zu überwinden und nach dem Mitleid zu greifen. Und, indem wir schauen, wie wir den Menschen an diesem Ort (dem Balkan) helfen können, lasst uns zuerst schauen, wie wir uns selbst helfen können, unseren Familien, unseren Nachbarn und unserer Gesellschaft. Dieser Prozess des tiefen Hinschauens wird es uns ermöglichen, klarer zu sehen, und unsere Aktionen der Hilfe (nach außen gerichtet) werden effektiver. Wie wir heilen, heilen unsere Familien, unsere Gesellschaften, unsere Städte, unsere Metropolen und Länder — WIR BEKOMMEN FRIEDEN!!